Auf ein Wort / Lesepredigten
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Predigt zu Mt 6, 25-34
Liebe Gemeinde,
Am Montag schreiben sie einen Test. Ausgerechnet Mathe. Ausgerechnet quadratische Gleichungssysteme. Da steigt sie einfach nicht durch. Den ganzen Sonntagnachmittag sitzt Alexandra schon vor dem Aufgabenblatt. Aber es lohnt nicht irgendetwas auswendig zu lernen. Es gibt immer wieder neue Varianten. Sie muss einfach nur denken. Aber diese Art von denken fällt ihr so schwer. Verzweifelt wirft sie den Stift auf den Tisch und stöpselt sich die Kopfhörer ins Ohr. Nur nichts mehr hören. Nur nicht an morgen denken und an die Kressnern.
Frau Kressner sitzt auch am Tisch und korrigiert die Arbeiten der anderen 11. Klasse. Sie kann es nicht fassen. All ihre Mühen es den Schülern irgendwie zu vermitteln scheinen bei den meisten umsonst. Sie fühlt sich als schlechte Lehrerin. Ob sie das Fach wechseln sollte. Aber so einfach ist das nicht. Und überhaupt immer die vielen Korrekturen. Die viele Zeit, die sie zu Hause sitzt und sich Gedanken macht und vorbereitet. Eigentlich müsste sie mit ihren beiden Jungs etwas machen. Die sitzen nebenan an der Konsole.
Und Reinhard der ist allein losgefahren. Auf dem Rad sitzt er. Neben ihm der Kanal. Und viel schöner wäre es mit ihr zusammen denkt er. Aber sie hat keine Zeit. Wie so oft. Reinhard hat mehr Zeit, vielmehr. Seit dem der Arzt ihm sagte, mit ihrem Knie können Sie nicht einfach weiter machen wie bisher. Entweder sie bekommen bald ein neues Gelenk, aber dafür sind sie zu jung oder sie wechseln den Job. Sein Chef hat ihm schon angedeutet, dass er sich nach was anderem umsehen soll. Da kommen ihm plötzlich einige junge Männer entgegen. Es sind offensichtlich Geflüchtete. Woher die wohl kommen. Nein wie Syrer sehen die nicht aus, vielleicht aus Afghanistan oder Eritrea? Das sie lachend an ihm vorbeifahren, kann er nicht verstehen. So schlecht geht’s denen vielleicht gar nicht, denkt Reinhard.
Ali entdeckt plötzlich, dass er gelacht hat. Ja seit langem. Als ihm dieser Deutsche entgegenkam, der ein wenig traurig wirkte und allein, da war Ali plötzlich froh. Nein er war nicht allein.
Mit ihm waren Freunde aus seinem Dorf. Sie hatten es bis hierhergeschafft. Keiner hält sie mit dem Fahrrad auf. Keiner nimmt ihm einfach so das Rad weg. Keiner bedroht ihn mit vorgehaltener Waffe. Ali kann einfach so an diesem Kanal entlangfahren. Er fühlt sich frei. Doch im nächsten Augenblick denkt er an seine Mutter und seinen gebrechlichen Vater, seinen Bruder, seine zwei Schwestern. Sie sind alle zurückgeblieben. Seit drei Wochen hat er nichts von ihnen gehört. Ist der Akku in ihrem Handy nur zu Ende, der Strom ausgefallen, oder schlimmeres? Wie wird es weiter gehen. Wohin soll er und wird er überhaupt bleiben können nach all den schlimmen Nachrichten über Fanatiker aus seinem eigenen Land. Und diese schwierige Sprache und soll seine Familie nachkommen, wird das überhaupt noch gehen, oder wird er je zurück in seine Heimat gehen können?
Nils sitzt in seiner neuen Wohnung. So richtig freuen kann er sich nicht. Denn das was eigentlich sicher war, hat der VW-Vorstand aufgekündigt. Was wird nun mit seiner Qualifikation, wird er als Alleinstehender zuerst entlassen?
In der Nacht haben alle denselben Traum:
Eine riesige Wiese mit purpurroten Feldanemonen – wie ein Teppich, wunderbare Bäume, verlockend anzusehen …
Als Alexandra aufwacht weiß sie plötzlich, dass ihr Leben nicht von quadratischen Gleichungen abhängt. Und wenn sie es vermasselt, wird sich eine neue Chance bieten. Und außerdem sind ihre Aufsätze so gut, dass Frau Schulze gesagt hat: Aus dir wird vielleicht mal eine Schriftstellerin. Sie will nicht immer an übermorgen denken und was das alles für Folgen hat. Heute will sie das mögliche versuchen und das unmögliche lassen.
Frau Kressner weiß, sie wird nicht einfach gehen wollen und sie weiß auch nicht was morgen ist. Aber heute, so beschließt sie, will sie mit ihren Schülern zu reden, wie sie es gemeinsam besser machen können. Und sie weiß, dass die Schüler sie trotz Mathe mögen, weil sie es ehrlich meint.
Reinhard weiß, er wird sich dem Gespräch mit seinem Chef stellen müssen. Er will sich nicht in Endlosschleife um das morgen sorgen. Reinhard weiß, was er kann. Er wird etwas finden. Trotz Knie.
Ali beschließt keine großen Pläne zu machen. Jeden Tag will er als Geschenk empfangen. Und heute will er sein Deutsch im Supermarkt ausprobieren. Er weiß, dass er schnell lernt und die Sprache sein Schatz ist. Einfach sehen, was passiert.
Und Nils weiß, dass es immer einen Weg in die Zukunft gibt und er sich nicht von den Bossen und ihren Fehlentscheidungen abhängig machen will.
So, liebe Gemeinde plötzlich inmitten der Sorgen neue Kräfte spüren, das ist eine wunderbare Erfahrung und ich dachte, ich muss diesen Gedankengang mit Ihnen und Euch noch einmal teilen. Vor 9 Jahren war der Text nach Mt hier schon einmal zu predigen.
Im Grunde sind die Sorgen heute nicht viel anders als damals aber auch dass Menschen frei werden von Sorgen kann alle Tage geschehen.
Und diese Erfahrung, die Urerfahrung von Vertrauen, die auch wir in diesen Tagen unbedingt brauchen, will der Erzähler des Matthäusevangeliums seinen Hörern ins Bewusstsein bringen.
Darum diese Bilder, diese himmlischen Zeichen mit dem Hinweis auf die Vögel am Himmel und die Blumen auf dem Felde.
Aufgeschrieben in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts wurden diese Worte für jene, die in ärgsten Sorgen und Nöten waren. Vermutlich waren es Menschen in Antiochia, der damaligen Hauptstadt der römischen Provinz Syria. Die meisten Einwohner lebten in furchtbaren beengten Verhältnissen, die sich durch Lärm, Dreck, Elend, Müll, Krankheit Feuergefahr, Verbrechen, soziale und ethnische Konflikte, Katastrophen wie Überschwemmungen auszeichneten. Zu diesen Armen gehörte die Gemeinde des Matthäus. Unterernährung, Mangel- und Infektionskrankheuten waren die Folge der Armut. Die Beschaffung des zum Leben Nötigsten wurde zur allesbestimmenden Sorge.
Und nun diese Worte Jesu. Sie sind eine Provokation. Ja! Sie provozieren dazu, die Defizitperspektive, die Sorgensicht zu verlassen. Die hörenden Menschen dieses Gleichnisses sollen sich nicht über ihre Armut definieren, sondern über ihren Reichtum. Ihr Reichtum ist das, was sie in sich haben, an positiven Erfahrungen, an Begabungen, an Bildern der neuen Welt Gottes.
Das droht inmitten der Sorgen verschüttet zu gehen und muss darum ans Licht. Es ist die Frage, ob wir diese Schätze, die himmlischen Gaben, die in uns allen sind, wahrnehmen oder ob wir nur auf den Mangel, schauen und uns von Sorgen beherrschen lassen.
Ich spüre beim Lesen solcher Texte mitunter die Lust zum Entdecken.
Entdecken, dass ich Worte plötzlich neu verstehen kann, dass die Provokation keine ist, die mich in zynischer Weise kränken will, sondern herausfordert, das Leben zu gestalten. Entdecken ist für mich ein wesentlicher Aspekt biblischer Texte. Die Welt, mich selbst in ihr und die Möglichkeiten um mich herum entdecken. Das ist geradezu ein Lebenselixier.
Jesus spielt mit der Entdeckerfreude in dem er Bilder malt von blühenden Feldern, sich entfaltenden Blüten, von Vögeln unter dem Himmel. Es sind Bilder, die in mir ungeahnte Leichtigkeit erzeugen und neue Kräfte.
Damit will ich nicht einfach Amen sagen.
Denn es kann dennoch es sein, dass die Sorgen erdrückend werden. Das können die Sorgen einer Schülerin sein, genauso wie die eines hier her geflüchteten Menschen. Es können die Sorgen sein, die viele nach den Wahlergebnissen umtreiben oder nach den Geschehnissen von Solingen. Es kann sein, dass Menschen das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen verloren geht.
In unserem kleinen Regionalkonvent haben wir vergangenen Mittwoch auch darüber gesprochen. Und da kam das Bild der Restmülltonne auf. Jeden Abend steht sie da und ich kann etwas wegwerfen an Sorgen, die ich gerade gar nicht gebrauchen kann.
Wie das geht, nun als Kind war das für mich das Gebet vor dem Schlafen. Es war auch meine Mutter, der ich Sorgen anvertrauen konnte, später, eigentlich bis heute sind es gute Freunde, meine Familie.
So können wir in vielfältiger Weise einander helfen beim Entsorgen. Einander teilhaben lassen an Sorgen das ist gerade dann wichtig, wenn die Sorgen mich nicht loslassen, ich womöglich nicht in den Schlaf komme.
Gott weiß darum. Darum findet glaube ich Gott die Erfindung des Telefons gut. Da sollte eine Nummer gespeichert sein eben von einem Menschen, dem ich meine Sorgen anvertrauen kann.
Unsere Kirche ist so in gewisser Weise für den Notfall auch ein Entsorgungsunternehmen, erreichbar z.B. unter der Nummer 0800 111 0 11 – das ist die Telefonseelsorge. Und einem Menschen in Not muss ich nicht den heutigen Predigttext vorlesen, sondern das Evangelium leben. Und das kann in einem solchen Fall eines in Sorge und Not geratenen Menschen bedeuten, dass ich sage: Ich höre dir zu.
Lasst uns also einander die Sorgen teilen und an die himmlischen Zeichen erinnern. Amen.