Auf ein Wort / Lesepredigten
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Predigt zu Lk 13, 10ff
Liebe Gemeinde,
Christa L. wohnt schon seit über 40 Jahren in Ihrer Wohnung im 8. Stock. Da hat man eine tolle Aussicht, ist aber auch etwas abgeschottet von der Welt. Vor 18 Jahren ist ihr Mann verstorben. Und seit dem Anneliese, ihre Kollegin aus der Porzellanfabrik zu den Kindern nach Süddeutschland gezogen ist, hat sie praktisch niemanden mehr. Und eigentlich braucht sie auch niemanden, sagt sie sich. So muss sie keine Rücksichten nehmen.
Und außerdem, kann man ja heute keinem mehr trauen. Durch die fortschreitende Artrose hat sie zunehmend Schmerzen. Vor allem am Morgen. So kommt sie kaum noch aus dem Haus, nur für das Nötigste. So hat sie sich in ihre vier Wände eingeigelt.
Mitunter fragt sie sich, wozu sie überhaupt noch da ist. Mit Manfred den sie heiraten musste, weil ihr Vater das wollte, hat sie sich das zwar auch oft genug gefragt, aber da war sie wenigstens nicht allein.
Wobei sie sich das mitunter gewünscht hatte. Eigentlich, so sagt sie sich, ist ihr ganzes Leben verpfuscht. Sie durfte nicht den heiraten, den sie liebte, durfte nicht den Beruf lernen, den sie wollte, konnte keine Kinder bekommen … als sie gerade so vor sich hin grübelte, wie schon oft, zu oft, da klingelt es an der Wechselsprechanlage. Und das am Sonntag! Christa L. erwartet niemanden. Mühevoll hievt sich aus dem Sessel und drückt auf den Knopf der Wechselsprechanlage. „Ja bitte, wer ist da?“ sagt sie missmutig: Mein Name ist Grace ..“ Noch bevor Grace ihr Anliegen vorbringen kann, hört sie: „Nein danke, ich brauche nichts.“ Es klingelt abermals. Christa L. reagiert noch missgestimmter. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nichts brauche!“ und schaltet die Wechselsprechanlage ab. Dann ist der Aufzug zu hören. Kurze Zeit später klingelt es an der Wohnungstür von Christa L.
„Das ist doch unverschämt“, denkt sie sich. Da hat jemand diese Frau hereingelassen und nun steht sie hier. Einen Augenblick überlegt sie, ob sie überhaupt öffnen soll, dann tut sie es doch. Sie öffnet die Tür und will jener Frau harsch die Meinung sagen. Doch sie bekommt kein Wort heraus, ist vielmehr überrascht über die Erscheinung dieser jungen Frau an ihrer Tür. Sie ist bildschön und wirkt auch nicht wie eine dieser Zeugen Jehovas. Außerdem scheint sie tatsächlich allein zu sein. Christa L. schaut aus Ihrer Tür um die Ecke. Da ist tatsächlich niemand weiter, nur sie, die sich als Grace vorstellt. Sie hat wunderschöne Augen, die weder aufdringlich, noch abschätzig schauen. Es ist ein klarer reiner Blick, freundlich und liebevoll. So ist Christa L. über sich selbst erstaunt, als sie zu jener Grace sagt: „Nun kommen Sie herein, wenn Sie schon einmal hier oben sind!“ Grace nimmt die Einladung dankend an und auf dem ihr zugewiesenen Sessel Platz. In einem Anflug von Neugier und Faszination über ihren Gast, bietet Christa L. ihr Kaffee an. „Und wenn sie möchten, können Sie auch ein Stück Pflaumenkuchen haben“. Sie essen doch Pflaumenkuchen?“
„Ja“, sagt Grace. „Mit Sahne?“ fragt Christa L. „Nein, lieber ohne“ antwortet Grace. „Aber Sie brauchen doch nicht so auf Ihre Figur zu achten“, entgegnet Christa L. „Das wäre kein Grund“, sagt Grace, „mir schmeckt der Kuchen so besser“.
„Nun, wie Sie meinen“, gibt sich Christa L. zufrieden. So trinken sie nun Kaffee aus dem blau-weißen Bürgelgeschirr, was Christa L. sonst nur zu Feiertagen auf den Tisch stellt. Aber eigentlich schon lange nicht mehr, denn es gibt nichts zu feiern. Nachdem Christa L. die Frage nach dem Kuchenrezept beantwortet hat, wird sie sich wieder bewusst, dass hier eine völlig fremde Frau vor ihr sitzt und will fragen, was Grace nun eigentlich zu ihr geführt hat. Aber noch bevor Christa L. diese Frage stellen kann, sagt Grace: “ Es ist nicht so einfach, das Beste zu wollen, wenn man allein und nur auf sich gestellt ist“. Darüber hatte Christa L. auch schon oft nachgedacht, was das Beste in ihrem Leben nun wäre und unvermittelt fängt sie an zu erzählen, warum sie so geworden ist, wie sie geworden ist.
Während sie erzählt scheint aus Christa L. der ganze Ärger über jene die ihr irgendein Schicksal aufgedrückt haben oder genauer über sich selbst, die sich hat dieses Schicksal aufdrücken lassen, heraus zu fließen. Die Artroseschmerzen scheinen verflogen und Christa L. richtet sich auf. Sie zeigt Grace ein Bild von sich, wie sie als junge Frau war. „Oh, da sind Sie noch sehr jung, sagt Grace. „Ja“, erwidert Christa L. „da lag das Leben noch vor mir.“ „Und jetzt nicht mehr?“ fragt Grace zurück.
Und Christa L. erzählt, was sie eigentlich alles tun wollte in ihrem Leben.
Grace hört ihr die ganze Zeit zu.
Dabei muss man wissen, dass Grace die Gabe besitzt, so zuzuhören, dass sogar ziemlich selbstgerechten Leuten Zweifel an ihrer Selbstgerechtigkeit kommen. Sie kann so zuhören, dass Missmutige ihre Missmutigkeit vergessen. Und so geht es in diesem Augenblick irgendwie auch Christa L. Sie sagt plötzlich. “Danke, dass Sie mir zugehört haben. Ich glaube, ich muss doch mal wieder unter Menschen.“ „Ja, das verstehe ich“, sagt Grace. „Wir können uns verabreden.“ „Ja, wirklich?“ fragt Christa L. etwas ungläubig. „Natürlich, jeder Zeit“, antwortet Grace. Das hatte Christa L. nun nicht erwartet, am meisten nicht von sich selbst.
Grace scheint ihre Gedanken zu erraten und sagt: „Es ist im Leben nie zu spät, noch etwas Überraschendes zu erfahren, etwas Neues anzufangen oder einfach etwas anders zu machen.“
Dann schreibt sie noch ihre Nummer auf einen kleinen Zettel und ihren Namen darunter. „Rufen Sie mich an. Wenn ich kann, komme ich.“
Als Grace gegangen ist, schaut Christa L. auf den kleinen Zettel, der neben der Bürgelkaffeekanne liegt. Noch ganz gedankenverloren liest sie den Namen, der darauf steht: „Grace Freiheit“. Und da versteht sie: „Ja was für eine Gnade, dass es sie gibt, die Freiheit!“.
Ja, liebe Gemeinde, an Christa L. und einige andere Menschen, die so ähnlich gelebt haben wie sie, musste ich denken beim Lesen des heutigen Textes über die Heilung der gekrümmten Frau.
Und ich weiß auch, dass es mitunter geschieht, dass jemand durch ein Gespräch, durch das Zuhören, durch eine Begegnung, vielleicht auch durch ein Wort, eine Melodie in einem Gottesdienst, durch irgendein Ereignis einen neuen Impuls zum Leben bekommt und etwas heil wird. Ich weiß auch, dass mitunter andere dann missmutig sind: Wie kann die oder der denn noch in ihrem oder seinem Alter so etwas tun.
Andere reagieren missmutig, wenn da plötzlich jemand wieder aufrecht zum Stehen kommt, wenn gar jemand Rückgrat zeigt.
Ist es nicht etwas Großartiges, wenn ein Mensch, der gebunden ist an sein bisheriges Schicksal und darüber hadert, wenn ein solcher Mensch plötzlich freikommt.
Ist das nicht ein Grund Gott zu loben und zu preisen.
Wer sich da nicht mitfreuen kann, ist wahrlich ein Heuchler und womöglich selbst gefangen, gebunden an irgendwelche ihm aufgedrückte Konventionen.
So will ich allezeit hoffend sein. Dazu ruft mich der heutige Predigttext auf. Unmittelbar vor dieser Episode erzählt übrigens Lukas das Gleichnis vom Feigenbaum. Dieser steht in einem Weinberg und bringt schon seit Jahren keine Früchte. Der Besitzer will ihn umhauen lassen. Der Weingärtner bittet aber um Geduld. Noch ein Jahr, lass uns dann sehen.
So wie dieser Weingärtner ist, so wie ich Jesus in all den Erzählungen der Evangelisten kennengelernt habe, so will auch ich versuchen hoffend zu sein. Und ich will mir ein Beispiel an Grace nehmen, versuchen Menschen zu ermutigen. Und ich will mir ein Beispiel an Christa L. nehmen, dass es allezeit möglich ist, frei zu werden, wenn ich gefangen bin. Und ich glaube daran, dass Gott für Heilung und Rettung einsteht, wenn ich mich verloren fühle.
Das hat mir Jesus vor Augen geführt.